Albanien, das Land der Skipetaren
Berat – die Stadt der tausend Fenster in Albanien, seit 2008 UNESCO-Welterbe (Foto: Gerd Richter)
Was willst du denn in Albanien? Ja was wollte ich in diesem Land, das gerade in den letzten Monaten „ins Gerede“ gekommen ist? Im Oktober, als Serbien und Albanien in der Qualifikation zur Fußball-EM 2016 gegeneinander antraten und im Stadion „eine Art Ersatzkrieg für frustrierte Nationalistenseelen“ austrugen, und im September, als Papst Franziskus auf dem Mutter-Teresa-Platz in Tirana, mit etwas über 600.000 Einwohnern Hauptstadt des Landes, vor rund 400.000 Gläubigen die heilige Messe feierte, „um euch zu ermutigen, die Hoffnung in und um euch zu mehren …“
Es war nicht mein erster Besuch, im „Land der Skipetaren“ – vielleicht erinnern Sie sich an den 5. Band von Karl Mays sechsbändigem Orientzyklus –, wohl aber mein erster Besuch in der „Republika e Shqipërisë“. 1988 und 1989 war ich in Albanien gewesen, damals noch ein kommunistisches Land, das sich im Zug von Glasnost und Perestroika unter seinem Staatschef Ramiz Alia vorsichtig zurückhaltend nach jahrzehntelanger Abschottung außenpolitisch öffnete und innenpolitisch erste wirtschaftliche Reformen einleitete. 1990 wurde das kommunistische Regime gestürzt und eine Massenauswanderung der Albaner begann. Ich war bestürzt, als ich die Aufnahmen von den mit Menschen beladenen Schiffen im Fernsehen sah, auch weil mir wieder einmal klar geworden war, wie wenig man als touristisch Reisender trotz intensivster Vorbereitung von einem Land, den Wünschen und Bedürfnissen seiner Bewohner „erfährt“.
Nun, 25 Jahre später, wollte ich wissen, was sich in diesem Land verändert hat. Eingeladen hatte im Februar ein Reisebüro aus Münster zu einer Informationsreise mit folgendem Text: „Albanien hat unendlich viel zu bieten: atemberaubende Naturlandschaften wie die mediterrane Rivieraküste … wilde Bergregionen … antike griechische und römische Städte, byzantinische Mosaike, mittelalterliche Burgen, osmanische Wohnkultur und natürlich Relikte aus kommunistischer Zeit.“
Albanien, ein wenig kleiner als Belgien oder Brandenburg, ist ein „junges“ Land. Das Durchschnittsalter beträgt ca. 25 Jahre, nur etwa 6 Prozent von den 3.700.000 Einwohnern sind über 65 Jahre alt (in Deutschland mehr als das doppelte). Es ist ein Land mit freundlichen, gastfreundlichen Menschen, voller Hoffnung auf Veränderung nicht nur im wirtschaftlichen Sektor. Viele der Hoffnungen richten sich auf den Tourismus. Man investiert von Seiten des Staates und privat in den Ausbau touristischer Infrastruktur: besser ausgebaute Hauptverkehrsstraßen, Hotels und private Unterkunftsmöglichkeiten. Doch das ist nicht immer positiv. „Zukunftsträume in Beton“, so ein Medienbericht, verschandeln die einstigen Strandidyllen, wie ich sie noch kennengelernt habe. Von einigen Hotelprojekten stehen nur noch Ruinen. Dazu kommen die Tausende von Gebäudeskeletten in allen Stadien des Rohbaus. Wer nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems Grundbesitz hatte oder bekam, wollte darauf auch bauen. Also fing man mit dem Hausbau an, baute, solange die finanziellen Mittel reichten … irgendwann wird man auch weiterbauen können. In Tirana gab es 1989 ein einziges Hochhaus, das Hotel Tirana am Skanderbeg-Platz gleich neben dem Nationalmuseum und mit Blick auf die Et’hem-Bey-Moschee. Sie, 1791 gestiftet, wurde erst 1991 nach dem Ende der kommunistischen Ära wieder als Gebetshaus zugänglich.
Albanien sei der erste atheistische Staat der Welt, rühmte sich Staatspräsident Enver Hoxha 1967. Bis 1990 war in Albanien jede Form der Glaubensausübung verboten. Kirchen und Moscheen wurden zerstört oder anderen Verwendungszwecken zugeführt. Sie wurden zu Lichtspieltheatern, Museen oder Sportstätten. Priester, Ordensleute und Laien starben wie politisch Andersmeinende in Gefängnissen und in Arbeitslagern. Heute bezeichnen sich etwa 55 % der Albaner als Atheisten, so die Auskunft unseres Reiseleiters; von den restlichen 45 Prozent seien mehr als die Hälfte Moslems, etwa 30 Prozent griechisch-orthodox und etwa 15 Prozent römisch-katholisch. Und so hört man den Muezzin zum Gebet rufen und so betritt man orthodoxe Kathedralen wie die Auferstehungskathedrale in Korçë, 1992 erbaut und die größte orthodoxe Kathedrale in ganz Albanien, oder die dem Apostel Paulus 2002 geweihte Kathedrale in Tirana – Paulus soll die Christengemeinde im antiken Dyrrhachium (heute: Durres) gegründet haben. Der Bau wurde in Form eines Dreiecks ausgeführt, das einerseits die Dreifaltigkeit, aber auch die engen Verbindungen der wichtigsten Religionen im Land symbolisiert. In den Fenstern sind Abbildungen von Papst Johannes Paul II., der 1993 Albanien besuchte, und von Mutter Teresa zu sehen. „Vom Blut her bin ich Albanerin, von der Staatsangehörigkeit her Inderin, nach dem Glauben Katholikin, und ich gehöre der ganzen Welt“, soll sie gesagt haben, als Tochter albanischer Eltern in Skopje, im heutigen Mazedonien, 1910 geboren. In Tirana ist auch der Flughafen nach ihr benannt. Zudem gibt es ihr zu Ehren einen gesetzlichen Feiertag, den „Dita e Nene Terezes“, den Mutter-Teresa-Tag, am 19. Oktober, der an ihre Seligsprechung im Jahr 2010 erinnert. Ist nicht beides ein Zeichen von gelebter Toleranz.
Beginnen wir am Flughafen und mit unserem Reiseleiter Klodian Veliko, 32 Jahre alt, im Süden Albaniens geboren, nach dem Studium der Germanistik und weiterführenden Studien als Stipendiat in Wien engagierter Mittler seines Landes, seiner Kultur und seiner Geschichte. Wir sind seine letzte Reisegruppe. Klodian wird zu seiner Frau nach Deutschland ziehen. „Seit Mai sind wir verheiratet. Meine Frau ist Professorin, und da nur einer seinem Beruf nachgehen kann und die Chancen in Deutschland besser sind, haben wir uns für diesen Weg entschieden,“ sagt er und wirkt nicht restlos glücklich. Immer wieder informiert er uns während der Fahrt über den Alltag in Albanien. Seine Familie hat Grundbesitz, 200 Oliven- und ebenso viele Mandelbäume gehören dazu. Das große Doppelhaus bewohnt sein älterer Bruder. Ihm hat er auch seine Haushälfte überlassen, damit er sich um seine Mutter kümmert, der Vater ist vor zwei Jahren gestorben. „Normalerweise muss der jüngste Sohn die Eltern mit versorgen.“ Das sei Ehre und Verpflichtung. Noch lebe man in Albanien überwiegend im Familienverbund, wenn auch nicht immer unter einem Dach, so doch in unmittelbarer Nähe. Aber da immer mehr junge Leute in die Stadt ziehen oder ins Ausland gehen, weil sie sich dort bessere Chancen ausrechnen, entstünden Konflikte zwischen den eigenen Wünschen und den Erwartungen der Gesellschaft. Ganze Dörfer im Landesinneren seien überaltert. „Wer Kinder hat, hat Glück“, so Klodian. Die Zustände in den wenigen Altersheimen seien katastrophal.
Albanien ist eines der ärmsten Länder Europas. Das Pro-Kopf-Einkommen beträgt nach Weltbankangaben etwas über 3000 Euro pro Jahr. In „absoluter Armut“ mit weniger als 50 Euro pro Monat leben 4,3 Prozent der Bevölkerung. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 17 Prozent, betrage nach unserem Reiseleiter in manchen Gebieten aber bis zu 50 Prozent: „Unter Enver Hoxha, Staatspräsident der Sozialistischen Volksrepublik Albanien von 1944 bis 1985, waren alle arm, aber alle waren auch gleich, alle hatten Arbeit, es gab keinen Stress.“ Man sei seinem geregelten Tagesablauf nachgegangen, um 6 Uhr aufgestanden, habe von 7-16 Uhr gearbeitet, habe sein Auskommen gehabt. Heute seien 7-8 Prozent der Bevölkerung extrem reich, eine breite Mittelschicht fehle. Schwierig seien die Lebensbedingungen vieler Familien, die Mieten und die Lebenshaltungskosten in den Städten hoch. Man habe sein Auskommen nur, wenn beide verdienen oder man einem zweiten Job nachgehe. Das Leben auf dem Land sei einfacher, weil man sich mit vielem selbst versorgen könne, mit Obst und Gemüse, mit Fleisch und Milchprodukten. Dennoch nehme die Landflucht weiter zu, weil man hoffe, in der Stadt bessere Chancen zu haben für sich und die Kinder. Oder Im Ausland. Hunderttausende AlbanerInnen emigrierten legal oder illegal auf der Suche nach Arbeit nach Italien, Griechenland, in andere Staaten der EU und nach Nordamerika.
Auf diese Weise jedoch fließt auch Geld zurück ins Land. Es scheint zum großen Teil in den Kauf eines Autos der gehobenen Klasse investiert zu werden. Albanien sei das Land mit der höchsten Mercedes-Dichte, wenn auch meist nicht allerneuesten Baujahrs. Das Pendel schwingt zurück. 1985 gab es zwei Privatautos in Albanien: jeweils einen Mercedes für Enver Hoxha und einen für Ismail Kadare, nobelpreisverdächtigen Schriftsteller, der in seinen Romanen albanische Gegenwart und Vergangenheit bildgewaltig beschreibt und der 1990 nach Frankreich übersiedelte, einst Freund Enver Hoxhas. 1989 bei meinem Besuch gab es ein paar Privatautos mehr für die wenigen Diplomaten, kaum sichtbar auf den Straßen. Damals verpesteten die Abgasschwaden der Fabriken ungefiltert die Luft, heute … Und jeder Mercedes scheint seine eigene Waschstation, seine eigene Tankstelle zu haben. Sie reihen sich an den Ausfallstraßen der Städte aneinander. Gegensätze prallen aufeinander. Ein Anachronismus, wenn man dann ein paar Minuten später einen Esel am Straßenrand dösen sieht oder ihn bestaunt, wie er einen hoch beladenen Karren zieht.
Flanierende Menschen sieht man heute noch: die Jugend wie bei uns das Handy ans Ohr gepresst oder ihr Statussymbol lässig in der Hand haltend, die Mädchen meist in Gruppen, im Outfit von unseren Teenagern kaum zu unterschieden, Omas, die in Parks ihre Enkel betreuen, und daneben die Herren der Schöpfung, Domino oder Schach spielend oder einfach nur ein Schwätzchen haltend. Sie füllen auch die Cafés, sitzen zusammen einen Kaffee oder Raki vor sich, Frauen sind, von Tirana abgesehen, so gut wie nicht dabei.
Doch der Wille zur Veränderung ist spürbar, die Freundlichkeit der Menschen, die einem das Gefühl vermitteln, Gast zu sein. Sie hat mich vor 25 Jahren beeindruckt, sie beeindruckte mich jetzt. Mein anfangs schüchternes „mirë dita“ (guten Tag) und „faleminderit“ (danke) brachte die angesprochenen Menschen zum Lächeln, manch einer versuchte ins Gespräch zu kommen, zumeist auf Englisch. Albanien ist ein Land auf der Suche nach einer neuen Identität. Illyrische Stämme, Griechen und Römer, Serben und Bulgaren, Byzantiner und Venezianer, nahezu 400 Jahre osmanische Herrscher, Italiener und Deutsche, sie alle haben ihre ihre Spuren hinterlassen.
Die Ruinenstadt Butrint, ein herausragendes Beispiel europäischer Siedlungsgeschichte von der Antike bis ins Mittelalter ist, wurde 1999 zum Weltkulturerbe erklärt, die historischen Zentren von Berat and Gjirokastra 2005. Gjirokastra mit seiner Zitadelle und seinen so genannten Turmhäusern, die aus dem 17. und 19. Jahrhundert stammen, spiegelt wie keine andere Stadt das Vordringens des Islams und der osmanischen Baukunst nach Europa wider und hat wie Berat sein Äußeres in den vergangenen zwei Jahrhunderten kaum verändert. In Berat sind die Häuser „übereinander geschichtet“, so dass alle Bewohner einen freien Blick auf den Fluss und den gegenüberliegenden Stadtteil haben. Zwischen den Gebäuden befinden sich steile Treppen, schmale Durchgänge, kleine Terrassen, versteckte Dachgärten und enge Gassen, durch die kein Auto passt. Reizvoll war unser kleiner Erkundungsgang in der Mittagspause. Noch viel, viel mehr an kunsthistorisch Betrachtenswertem haben wir auf unserer einwöchigen Rundreise gesehen in großen und kleinen byzantinischen Kirchen mit wunderbaren Ikonen des Meisters Onufri, in Museen, vielleicht ein wenig antiquiert in der Präsentation ihrer Objekte, wenn man von der nationalen Kultstätte, dem Museum für Skanderbeg in Krujë absieht, der Besuch schon zu kommunistischen Zeiten ein Muss. Wer war Skanderbeg (1405-1468)? Er war der Sohn eines Bergfürsten, berühmt schon zu Lebzeiten als Verteidiger des Christentums gegen die Osmanen, Held zahlreicher Bücher und Dramen – viele davon erst mehrere hundert Jahre nach seinem Tod verfasst wie die Oper „Scanderbeg“ von Antonio Vivaldi.
Unter Enver Hoxha schottete sich das Land stärker als jedes andere ehemalige Ostblockland von der Außenwelt ab. Auch mit ehemaligen Freunden wie dem jugoslawischen Nachbarn Tito, mit der UDSSR unter Chruschtschow und wirtschaftlichen Partnerland China wurde gebrochen. Bürger der USA durften nicht einreisen, andere Ausländer waren in nur „dosierter“ Form zugelassen und nur, wenn sie sich dem vom Staat organisierten Besichtigungsprogramm unterzogen. Obligatorisch war auch 1989 noch der Besuch von Schulen und Kindergärten, war das Gespräch mit verdienten Arbeitern und Arbeiterinnen des Sozialismus. Es waren trotz aller Fremdheit, und obwohl ein Aufpasser und Dolmetscher immer dabei war, Gespräche, die weiterwirkten. Und im Gedächtnis blieb und bleibt die großartige Landschaf, die Fahrten an der Steilküste entlang und hinein ins Gebirge, wenn sich der Bus Serpentine um Serpentine hochgeschraubte auf eine Passhöhe von mehr als 1200 Metern und den Blick in ein weiteres fruchtbares Tal freigab, bewacht von einem der schätzungsweise 600.000 Ein-Mann-Bunker, die Enver Hoxha in ganz Albanien zur Landesverteidigung bauen ließ – pittoreske graue Beton-Pilze, fast unzerstörbar, aber für friedliche Zwecke nutzbar als Heuschober oder Viehstall.
Friedliche Nutzung – friedliches Miteinander: Albanien ist ein Land, das sich internationale Zusammenarbeit wünscht, mit Menschen, die dafür arbeiten und optimistisch trotz aller Widrigkeiten an die Zukunft glauben, die ihr Land lieben wie unser Reiseleiter und es nur notgedrungen verlassen, und die auch im Touristen den Gast sehen. Albanien drängt es nach Europa. 2009 trat das Land der NATO bei, 2010 lockerte die Europäische Union die Visa-Bestimmungen für albanische Bürger, die fortan nur einen biometrischen Pass vorweisen müssen, um in den Schengen-Raum einreisen zu dürfen. Seit dem 24. Juni 2014 ist Albanien offizieller Beitrittskandidat der Europäischen Union. Aber Albanien hat noch vieles aufzuarbeiten vom Kampf gegen Korruption, die sich auf allen Ebenen ausgebreitet hat, besonders beim Erwerb von Lizenzen für Privatunternehmen, bis hin zu einer gerechteren sozialen Versorgung. Zwar gibt es ein ausgebautes staatliches Schulwesen, doch die Chancen nach dem Besuch einer privaten Schule oder Universität – nur von wenigen zu bezahlen – einen Arbeitsplatz zu finden sind deutlich höher. Zwar gibt es eine flächendeckende, nahezu kostenlose Krankenversorgung – man bezahlt am Anfang des Jahres 10 Euro, wenn man sie hat – , doch eine „ordentliche“ Versorgung sei nur gewährleistet, wenn man genügend Geld zur Verfügung habe und reichlich „spende“, so unser Begleiter Klodian. Ich habe meine Reise nicht bereut, aber sie hat mich auch zum Nachdenken gebracht – darüber, wie gut es uns hier in Deutschland geht.
Faleminderit – danke und mirupafshim – Auf Wiedersehen!